Lesen in Zeiten von Corona

Normalerweise schreibe ich Artikel über (noch) nicht gelesene, aus nicht näher definierbaren Gründen liegengelassene Bücher am Ende eines Jahres – als Rückblick und to-do (also to-read-) Liste in einem, sozusagen. Jetzt, Mitte März 2020 poste ich diesen Text aus einem bisher noch nie dagewesenen Grund: Covid-19/Corona  hält uns alle in Schach, beziehungsweise zu Hause. Alle Veranstaltungen abgesagt, Schulen geschlossen, selbst in die Kneipe soll man nicht mehr gehen – „soziale Zurückhaltung“ ist das Gebot der Stunde, was auch heißt, dass man sehen muss, wie man die (leere, resp. gewonnene) Zeit sinnvoll füllt. Eine Kollegin äußerte schon letzte Woche die zarte Hoffnung, dass Verlage zu den Krisengewinnlern zählen könnten – weil Netflix ja schließlich auch irgendwann leer geguckt ist. Es wäre in der Tat ganz wundervoll, wenn die nicht nur durch abgesagte Frühjahrsmessen  gebeutelten Verlage vom Virus „profitieren“ würden, bitte entschuldigt meinen eiskalten wirtschaftlichen Blick, aber wann, wenn nicht jetzt ist die ideale Zeit, um zum ersten einsam eingenommenen Morgenkaffee ein Buch aufzuklappen?

„Hexen“ zum Beispiel: Gerade als Nautilus Flugschrift erschienen und scheinbar total im Trend, haben sich doch bereits einige Frauenzeitschriften der Themen Hexen, Hexerei und Magie angenommen. Die französische Autorin Mona Chollet befasst sich so persönlich wie kenntnisreich mit Hexen, die in ihrer Auslegung freie, selbstständige Frauen und Vorreiterinnen des Feminismus waren – und dem Patriarchat ein Dorn im Auge. Das Buch präsentiert berühmte Hexenfiguren aus Literatur und Film, beklagt die Verunglimpfung alter Frauen und der Fähigkeiten von Hebammen, Heilerinnen, etc., deren Wirken sich männlicher Kontrolle entzog und damit verdächtig war. Chollets Schilderungen von Hexenjagden plus Originalzitaten aus Werken wie dem „Hexenhammer“ sind so drastisch, dass man ihr Buch jedem alten weißen Mann, der von „Hexenjagd“ winselt, wenn er sich für irgendeine Schandtat verantworten soll, als Pflichtlektüre verordnen müsste.

Ebenfalls eine Nautilus Flugschrift: Stephanie Haerdles „Geschichte der weiblichen Ejakulation“, kurz „Spritzen“. Dass Frauen (auch) ejakulieren, dürfte schon allein als sensationelle Nachricht gelten – herrschte doch die gängige Meinung, dass nur Männer abspritzen (und Frauen empfangen, quasi als Becken dienen). Dass es aber ganz schön nass im Bett werden kann, auch wenn kein Mann zugegen ist und keine Blasenschwäche vorliegt, wissen viele Frauen – Stichwort Squirting. Offen darüber gesprochen wurde außer in aufgeklärten Kreisen allerdings bisher eher selten. Sehr gut also, dass es nun dieses Buch gibt, das in einer sehr gut lesbaren Mischung aus biologischen Facts, historisch-literarischen Anekdoten und ganz praktischen Beispielen erklärt, wo weibliches Ejakulat rauskommt (ist das Pipi? Nein), welchen Sinn es hat und warum weder Männer noch Frauen sich davor fürchten müssen 😉

Now for something completely different: Noch vor wenigen Wochen hatte ich dieses Buch für, naja, nicht ganz so notwendig wie andere gehalten – jetzt haben sich die Dinge gewendet, und „Isn’t It Ironic?“ kommt zu wohlverdienten Ehren. Im Original heißt das Buch übrigens „Should I Stay Or Should I Go: And 87 Other Serious Answers To Questions In Songs“, und trifft das Ansinnen von Autor James Ball etwas genauer – für den deutschen Markt fand man Alanis Morrisettes berühmte Textzeile wohl passender. Okay. Ball jedenfalls hat es sich zur Aufgabe gemacht, 88 Fragestellungen und Konstatierungen aus Popsongs möglichst wörtlich und genau zu beantworten, also zum Beispiel Gloria Gaynors „I Will Survive“ mit einem statistischen Schaubild zu kommentieren, das die noch zu erwartende Lebenszeit ab dem eigenen aktuellen Lebensalter prognostiziert. Gary Numans Wave-Hit „Are Friends Electric?“ wird mit einer Abhandlung über elektrische Stromschläge bedacht, und – einer der witzigsten Texte – Rupert Holmes berühmte Frage aus seinem Hit „Escape“ (do you like Pina Coladas / gettin‘ caught in the rain?) bekommt Kreisdiagramme gegenübergestellt, die zeigen, wie viele Männer in Großbritannien (prozentual) gern Pina Coladas trinken oder gern vom Regen überrascht werden. Kurzum: Ein Buch für Fans und Freaks, die Popsongs gern wörtlich nehmen – und eine Parodie auf den noch immer grassierenden Infografik-Overkill.

Auch bei Ernst Hofackers neuem Buch über „Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts“ dachte ich zugegebenermaßen erstmal, „Gähn. Es gibt doch schon tausend Bücher über die Siebziger!“ Stimmt auch, und die Hälfte davon stammt von Hofacker – Scherz, aber der 1957 geborene Journalist und Radiomoderator hat tatsächlich einige Bücher über die Stones und andere Siebzigerplatzhirsche geschrieben, kennt sich also bestens aus. Und natürlich haben die Rolling Stones in seinem aktuellen Buch einen festen Platz, aber Hofacker befasst sich – chronologisch Jahr für Jahr – auch mit weniger populären Phänomenen, beleuchtet Genres wie Punk und Reggae, die in den Siebzigern en vogue waren UND schreibt relativ ausführlich über MusikerINNEN wie Suzi Quatro, Debbie Harry (zitiert sogar aus deren jüngst erschienenen Autobiographie „Face It“), Patti Smith, Betty Davis, Kate Bush und viele andere. Ich betone das deshalb, weil in vielen Pop- und Rock-Anthologien weibliche Stars ein Nischendasein fristen, oder, schlimmer noch, lediglich als Musen von Jagger, Bowie und den anderen Erwähnung finden. Für mich ist „Die 70er“ eine echte, positive Überraschung – und seit mehreren Wochen on top of my Nachttischstapel.

Ebenso überraschend (für mich) und definitiv lesenswert (für viele) ist Dagmar Ellen Fischers „Kurze Geschichte des Tanzes“, die durch die immense Fülle an Fotos besticht und einen wahren Parforceritt (sorry für schiefes Bild) durch die Jahrtausende bietet. Darstellungen früher Tanzrituale finden sich bereits in Höhlenmalereien, getanzt wurde und wird an praktisch allen bevölkerten Stellen des Globus. Fischer erklärt japanische, indische, italienische, jüdische Tanzformen, widmet sich der Hochphase des Modernen Tanzes mit berühmten Vertreterinnen wie Mary Wigman ebenso wie dem Klassischen Ballett (Schwanensee, you name it), der Faszination Tango und dem HipHop aus der Bronx – klar, dass angesichts der schieren Menge an Tanzstilen und Epochen Fischers Erläuterungen und Herleitungen recht knapp ausfallen. Für Leute wie mich aber, die überhaupt erstmal einen Überblick über das Tanzen an sich haben möchten, ein idealer Einstieg. Erwähnte ich schon die vielen tollen Bilder?

Apropos tolle Bilder: Die 1950 in Brooklyn, New York geborene Fotografin Marcia Resnick wurde mit Fotos der New Yorker Punkszene rund um das legendäre CBGB berühmt. Einige Jahre zuvor, Resnick hatte gerade einen schweren Autounfall überstanden, veröffentlichte sie eine rätselhafte Fotoserie, die mehr oder weniger konkret die Adoleszenz junger Mädchen thematisierte. Den streng inszenierten Schwarz-Weiß-Fotos ist jeweils eine Textzeile gegenüber gestellt („She became an expert shoplifter“ / „She developed slowly but learned how to stuff her bra so that both sides matched“ / „While playing with her toys, she entertained cowgirl fantasies“), die gleichsam banal-alltäglich, aber auch geheimnisvoll und verrucht wirken. Andy Warhol fand Resnicks Fotos damals „schlecht“, Allen Ginsberg urteilte „schlau… für ein Mädchen“ – was wahrscheinlich mehr über die Zitierenden aussagt, als über Resnicks Werke, die von ihrer Freundin und Weggefährtin Lydia Lunch als „süß, mysteriös und köstliche Perversionen“ bezeichnet werden. Entscheiden Sie selbst!

Mona Chollet: Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen
Aus dem Französischen übersetzt von Birgit Althaler
Nautilus Flugschrift 2020
ISBN 978-3-96054-230-8

Stephanie Haerdle: Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation
Nautilus Flugschrift 2020
ISBN 978-3-96054-215-5

James Ball: Isn’t It Ironic? Antworten auf absolut lebenswichtige Fragen in Popsongs
Aus dem Englischen von Benjamin Schilling
Droemer 2019
ISBN 978-3-426-27795-9

Ernst Hofacker: Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts
Reclam 2020
ISBN 978-3-15-011244-1

Dagmar Ellen Fischer: Eine kurze Geschichte des Tanzes
Henschel 2019
ISBN 978-3-89487-797-2

Marcia Resnick: Re-visions
Edition Patrick Frey 2019
ISBN 978-3-906803-93-7

2 Gedanken zu “Lesen in Zeiten von Corona

  1. Ernst Hofacker schreibt:

    Wow, ganz herzlichen Dank für die lobenden Worte! 🙂 Ich freue mich sehr, wenn das Buch neben einem gewissen Unterhaltungswert auch das eine oder andere Aha-Erlebnis liefert! Danke & schönen Gruß! Ernst Hofacker

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